War schön jewesen!
Der Schwimmer auf Bahn 4 hat ein Problem. Nach der 50-Meter-Wende liegt er im Rennen über 100 Meter Rücken gut eine Länge vor der Konkurrenz, aber plötzlich rudert er seltsam mit den Armen, strampelt mit den Beinen, nimmt eine sitzähnliche Position ein und flucht so laut und durchdringend, dass jeder in der Halle es hört: „Sch…!!!“ Dann versucht er weiterzuschwimmen, bricht aber nach wenigen Zügen wieder ab und taucht – nachdem die anderen Schwimmer weit genug weg sind – frustriert unter den Leinen hindurch zum Beckenrand.
Der Mann auf Bahn vier war ich. Ort der Handlung: die Schwimmhalle am Freiberger Platz in Dresden, Deutsche Meisterschaften über 100 Meter Rücken in der Altersklasse 60. Der beherzt eingesetzte Beinschlag nach der Wende rächt sich in Gestalt eines fiesen Wadenkrampfs. Die freundliche Kampfrichterin, die herbeigeeilt kommt, als ich mich aus dem Wasser mühe, braucht fast zwei Minuten, um die Verkrampfung zu lösen. Monatelanges hartes Training – und nun das. Einen Wadenkrampf hatte ich nicht auf dem Zettel. Eher schon die Probleme mit der linken Schulter, die mich seit Wochen plagen. Die letzten drei Wochen vor den Meisterschaften war das Training nur noch mit Schmerzmitteln möglich.
Zwei Tage später dann – an gleicher Stätte – eine kleine Genugtuung mit einem Start-Ziel-Sieg über 50 Meter Rücken in sehr guten 33,20 Sekunden, mit mächtig Wut im Bauch und trotz lädierter Schulter, die schon beim Einschwimmen schmerzt. Nur zweimal war ich in den vergangenen neun Jahren auf der langen Bahn schneller. Gut anderthalb Sekunden vor dem Zweitplatzierten – das lässt hoffen für die nächsten Jahre. Dachte ich.
Aber was mache ich mit der Schulter? So eine Schleimbeutelentzündung ist hartnäckig. „Das kann das Ende der Schwimmerei sein“, sagt der Physiotherapeut und wiegt bedenklich den Kopf hin und her. „Kaufen Sie sich ein Hollandrad“, meint der Orthopäde, als ich ihm von intensivem Schwimmtraining viermal pro Woche erzähle. Von meinem Plan, mit der maladen Schulter noch vier Wochen bis zum Saisonabschluss im pfälzischen Deidesheim weiterzutrainieren, sage ich lieber nichts.
Weitere Schachteln Diclofenac und Etoricoxib kommen zum Einsatz. Wäre ich ein vernünftiger Mensch, nun ja, dann hätte ich den Wettkampf in Deidesheim gestrichen. Aber es ist immer so wunderbar entspannt und familiär dort, in einem der wohl schönsten Freibäder Deutschlands, inmitten von Weinbergen gelegen. Also ziehe ich die Sache durch.
Es ist ein Desaster. Von den Starts über 100 Meter Schmetterling, 200 Meter Brust und 50 Meter Freistil ist nur so viel zu berichten, dass die Muskulatur verspannt ist und die Zeiten lausig; je länger die Strecke, desto schlimmer. 20 Minuten nach den 50 Meter Freistil gehe ich noch mal zur Startbrücke – 50 Meter Schmetterling wollte ich ja auch noch schwimmen. Es ist ein seltsames Gefühl auf dem Startblock. „Könnte das letzte Mal sein, dass Du hier oben stehst“, schießt es mir kurz durch den Kopf. „Jetzt noch mal alles rein. Quäl Dich, Du Sau!“ Den Übergang von der Unterwasserphase in die Schwimmbewegung kriege ich mal wieder nicht hin, weder nach dem Start noch nach der Wende. Die Arme bleiben halb im Wasser hängen. Aber wenigstens kämpfe ich bis zum Anschlag. „Wird wohl mal wieder ne 32,5 gewesen sein“, denke ich beim Rausklettern und frage gar nicht erst nach der Zeit.
Nach dem Umziehen und einem Weizenbier will ich mich eigentlich schon auf den Weg zum Bahnhof machen, schaue dann aber doch noch mal an der Wand mit dem Protokoll vorbei. Ach, da sind ja schon die Ergebnisse von 50 Schmetterling… Als ich meine Zeit lese, mache ich vermutlich kein besonders intelligentes Gesicht: 31,89 Sekunden, fast eine halbe Sekunde schneller als die bisherige Bestzeit, an der ich mich im vergangenen Jahr ein halbes Dutzend Mal vergeblich abgemüht habe. Ich kann es also noch.
Jetzt, etliche Wochen später, bin ich froh und eins mit mir, dass ich alles genau so gemacht hab‘. Der räudige Schleimbeutel gibt keine Ruhe, an Training ist nicht zu denken. Vielleicht soll es so sein. Irgendwann ist man es auch leid, ständig gegen den eigenen Körper anzukämpfen, der nicht so will wie man es gern hätte. Manchmal ist die Zeit reif für eine robuste Entscheidung – und so beschließe ich, dass Schluss ist mit dem Wettkampfsport. Schwimmen werde ich weiterhin, wenn die Schulter es wieder zulässt, aber die Jagd nach immer besseren Zeiten in Training und Wettkampf, sie ist vorbei. Eine Bestzeit im letzten Wettkampf, es hätte schlechter enden können.
Danke an alle PSV-Delphine, mit denen ich die vergangenen neun Jahre gemeinsam verbringen durfte. Allen voran natürlich Sabine, die meinen Individualismus erduldet hat und immer ansprechbar war. Wir können uns glücklich schätzen, eine derart kompetente und immer einsatzbereite Trainerin zu haben.
Und außerdem: Manchmal gibt es ja auch Rücktritte vom Rücktritt.
Und vor allem: War schön jewesen!
Andreas Molitor