Ein Bericht von Julia Rost
Es ist 5:27 Uhr in der Hansestadt Greifswald, wo das jährliche Boddenschwimmen stattfindet. Aufstehen, ein erstes Frühstück mit Brötchen, Butter und Marmelade, Kaffee, ein Glas Magnesium und eine Stunde später ging es los. Ankunft 7:30 Uhr. So ist das, wenn man die Tochter vom Zeitmesser ist. Man ist immer vor allen anderen Teilnehmern da. Aber kein Problem, alle ehrenamtlichen Mitglieder der DLRG versorgten mich mit einer absoluten Herzlichkeit und einem zweiten Frühstück, weiteren Kaffee und einem Unterschlupf vor dem herunterprasselnden Regen. Regen? Ja, ihr lest richtig. In Strömen. Es regnete schon die ganze Nacht durch. Wahrscheinlich hat sich der Bodden gedacht, füllen wir mal die Wanne auf, damit die Schwimmerinnen und Schwimmer auch genug Wasser zum Durchkommen haben. „NASS WIRD´S“, habe ich mir noch gedacht. Aber sei es drum, nass werden sollten so oder so.
Bei der Startnummernabholung bekam ich die Nummer 57 mit einem dicken schwarzen Edding von den freundlichen und lächelnden DLRG-Damen auf meinem rechten Oberarm notiert. Die gelbe Stoffbadekappe und der Transponder wurden mir in die Hand gedrückt. Endlich mal keine Plastik Badekappe, doch warum nochmal Stoff? Dazu kommen wir später…
Angi und Tobias trudelten gegen 9 Uhr ein und genossen gleich die regnerische Aussicht aus dem Zelt heraus, welches uns als weiterer Unterschlupf zur Verfügung gestellt wurde. Die mentale Vorbereitung lief top. Die körperliche auch. Hier noch eine Banane für die Magnesiumzufuhr, da noch ein Kinder Fruchtquetschi für den ausreichenden Zuckergehalt! Wir waren bereit!
Um 10:20 Uhr gab es dann die erste Einweisung per Megafon: „100 JAHRE Boddenschwimmen!“, ertönte es heraus. Wow, dachte ich mir noch. 100 Jahre, so alt werden kaum 5% der deutschen Bevölkerung und ich musste kurz schmunzeln, als mir die Bilder der damaligen Badebekleidungen in den Kopf schossen. Gänsehaut machte sich auf meinem Körper breit – vor Respekt und sämtlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die schon zu ganz anderen Zeiten hier lang geschwommen sind. Mit Absicherung per Ruderbooten, ohne digitale Zeitmessung und trotzdem sicher mit einer großen Portion Motivation und Spaß ins Ziel gekommen sind. Ehe ich mich versah, ging es auch schon los zu den Bussen. Um 10:40 Uhr machten sich vier Busse mit 200 Schwimmerinnen und Schwimmern auf die 20 minütliche Fahrt bis zur anderen Uferseite nach Ludwigsburg.
Ankunft um 11:01 Uhr. Der Wind sauste an unseren Ohren vorbei. Ich bemerkte, dass wenigstens der Regen aufgehört hatte. Na, immerhin etwas. Zum Fertigmachen und Taschen ablegen war es noch zu kalt. Zum Strandabschnitt führte eine kleine gepflasterte Straße neben einer Anlegerstelle, an der nur 8 kleine Ruder- und Segelboote Platz hatten. Sie schwankten im Takt der Wellen, die die Ostsee reinschob. Wir erkundeten kurz den Strandabschnitt und setzten uns noch einmal für die restliche Wartezeit zusammen. Banane und Scho-ka-kola (Anm.d.R. eine besonderen Koffein-Schokolade) wurden verteilt. Die Freude auf das nasse Fest machte sich langsam breit und wir tauschten uns noch einmal über die Strecke aus, machten ein paar Witze und sprachen uns gegenseitig Mut zu. Dann war es auch schon so weit. Wir standen nur noch in unseren knappen Badebekleidungen, die gelben Badekappen saßen fest unter unseren Schwimmbrillen und die Taschen waren im Transporter Richtung Ziel. Als wir den kleinen Hügel zum Strand hinter uns gelassen hatten, sah ich zum ersten Mal, wie groß der Strand wirklich war. Der Wind war ohne Schutz vor den Dünen viel stärker, die Wellen brausten uns am Ufer entgegen und ich dachte nur: „Das wird wild!“
Um 11:50 Uhr ertönte das Megafon wieder, doch der Wind verschluckte die Hälfte. Ich hörte durch die Badekappe nur noch wie ich erst die Bojen an meiner linken Schulter lassen sollte, ab dem Einhorn nach links und anschließend die Bojen an meiner rechten Schulter. Ein fragender Blick an Tobias, der mir den Kurs nochmal bestätigte. 11:54 Uhr, 6 min bis zum Start – doch auf einmal schwammen alle los. Der Wind hat den Start vom Oberbürgermeister Greifswald völlig verstummen lassen. Zwei Hechtsprünge, 5 wilde Züge, Wellen ohne Ende und ein erster Gefühlscheck – ich grinste unter Wasser! Ernsthaft. Ich habe mich gefreut wie ein kleines Kind, welches mit dem Kettenkarussell losfährt. Das musste am Adrenalin lagen. Denn nach 5 Minuten bemerkte ich die erste Qualle zwischen meinen Händen. Kurzer Realitätscheck: Ruhig Atmen, auf die Wellen hören, nicht vom Nebenmann beirren lassen und mit jedem Atemzug versuchen, kein Wasser zu schlucken.
Der erste Streckenabschnitt bis zum Einhorn war geprägt vom Wellenklatschen ins Gesicht, vom Ablegen der Seekrankheit und einem kurzen Hallo von Tobias, der an mir vorbei schwamm als wäre nichts gewesen. Dann ging es weiter, immer weiter. Es war ein Kampf durch die Wellen, die von vorne in einem unregelmäßigen Rhythmus und in kurzen Abständen auf einen niederschwappten. Immer mehr kleine Quallen, die durch die Finger huschten. Immer mehr Ostseewasser, was sich in die Lunge und in den Bauch verirrte. Kurze Zweifel machten sich breit. „War das eine gute Idee? Vielleicht sollte ich aufhören? Wieviel Kraft wird mein Körper noch haben, bis er untergehen wird? Werden die vielen Rettungsschwimmer um uns herum sehen, wie meine gelbe Badekappe untertauchen wird?“
Das Einhorn durchbrach meine Gedanken. Da war es endlich! Jetzt nur noch nach links und die Bojen rechts liegen lassen. Die Wellen kamen ab jetzt von rechts. „Okay, los geht’s. Damit kannst du sehr gut umgehen. Du kannst das. Du schaffst das!“ Da war sie wieder, meine Motivation. Mein Körper schöpfte nochmal neue Kraft für den zweiten Streckenabschnitt. Jetzt wird nochmal alles gegeben, was noch da ist. Eins, zwei, Atmen, eins, zwei, Atmen, eins, zwei Atmen. Erste Person überholt. Eins, zwei, Atmen, eins, zwei, Atmen, wieder jemanden überholt. So ging es immer weiter, ruhiges Gleiten, Krafteinsatz im richtigen Moment. Die Oberarme arbeiteten wie ein Uhrwerk, das immer kraftvoller den Zeiger ticken lässt. Mit jedem Zug schoben die Arme und Hände das Wasser noch stärker nach hinten. Die Beine paddelten hin und her, von oben nach unten, schoben mich zusätzlich weiter nach vorne. Und dann sah ich es schon, das Ufer, das Ziel, die letzten drei Bojen. Einmal noch am Tukkan abgebogen und das Ziel war in Sicht. Nochmal drei Personen überholt und stolz wie Bolle kurz vor dem Zieltor im Wasser aufgestanden. Transponder an die Tafel halten – Piep. Das war´s! Ich habe es überlebt, mein erstes Freiwasser Abenteuer. So glücklich und erleichtert ich auch war, so schwach war mein ganzer Körper. Die 5 Liter Ostseewasser und der Wellengang haben mir doch mehr zugesetzt als ich dachte. Doch Angi und Tobias warteten bereits mit dem Zucker-Tee auf mich und begrüßten mich beide mit einem fetten Grinsen im Gesicht „Na, auch schon da?“ „Ach Ihr Zwei, ist das schön euch zu sehen!“ , dachte ich mir noch, konnte aber wegen völliger Erschöpfung nichts mehr herausbekommen. „Denk daran, die Tasse einzutauschen am Nudelstand!“ hörte ich noch Schwimmmama Ang rufen. Ach ja, da war ja was. Die Greifswalder DLRG hat sich ein wundervolles Nachhaltigkeitskonzept überlegt, um den Müll nach Wettkämpfen einzudämmen und damit etwas für den Umweltschutz zu tun. Das Prinzip funktionierte so: Am Ziel gibst du deine gelbe wiederverwendbare Stoffbadekappe ab und bekommst im Austausch deine warme Tasse Tee. Die leere Tasse tauschst du ein in ein Nudelgericht am Kantinenwagen vom DRK. Sobald das in deinem Bauch verschwunden ist, gibst du deinen leeren Teller am Eisstand ab und erhältst eine Portion Softeis oder Kugeleis deiner Wahl.
Meine Tasse also leer getrunken, Käsebrötchen und zwei Milky Crispy Rolls aufgegessen und ich raus aus dem nassen Badeanzug, rein in die warmen Klamotten. Barfuß durch den Matsch mit Blick auf das neue Ziel, den Nudelstand. Meine Wahl fiel auf Nudeln mit selbst-gemachtem Wurstgulasch. Lecker. Anschließend zum Eisstand. „Moin, ein großes Vanille Softeis, büdde!“ Meine Welt war wieder völlig in Ordnung und passend dazu strahlte die Sonne mit meinem wiedergekehrten Lächeln um die Wette! 🌞 Das mache ich definitiv nochmal!
Vielen Dank an Angi und Tobias für eure mentale Unterstützung und das tolle Teamgefühl. Ein großes Lob an den Greifswalder DLRG, THW und Marineflotte für das unfassbar sichere Gefühl im Wasser. Das 101. Boddenschwimmen darf sich auf meine nächste Anmeldung freuen.
Eure
Jule