Von Andreas Molitor
Bericht von den Deutschen Mastersmeisterschaften „Lange Strecke“ in Halle (Saale) am 25./26. Februar 2023
Es kommt selten vor, genau genommen nie, dass ich mir wünsche, mit meinem alten Benz auf der Autobahn liegenzubleiben. An diesem Morgen zwischen 6 und 7 Uhr, unterwegs auf der A9 Richtung Leipzig, spiele ich ernsthaft mit dem Gedanken. Die Vorstellung eines mehrstündigen Wartens bei Schneeregen auf den ADAC scheint mir jedenfalls deutlich weniger bedrohlich als das, was mich am Ende der Reise erwartet. Ich bin unterwegs zu den Deutschen Mastersmeisterschaften „Lange Strecke“ in Halle. Und ich hab‘ die Hosen ganz schön voll. Mir ist übel.
Es ist der erste wichtige Wettkampf auf der langen Bahn seit vier Jahren – nach Hüft-Operation, diversen Corona-Zwangspausen und etlichen gesundheitlichen Räudigkeiten, die mich im Training immer wieder ausgebremst haben. Wie die Form ist? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Mal schwimme ich im Training Zeiten wie vor vier, fünf Jahren, mal fühlt sich das Wasser an wie Rübensirup – und der Blick auf die Uhr macht fassungslos. Und in der Woche vor den Meisterschaften ging die Befindlichkeitskurve im Wasser deutlich nach unten. Was ist denn da los? Hab ich mich im Trainingsaufbau verzockt? Zu viel gepowert, so dass ich jetzt im Tief feststecke? Und muss man wirklich 200 Rücken schwimmen, wenn es in dieser Schwimmart seit Monaten überhaupt nicht läuft? Wie gesagt, die Option „Autopanne“ glänzt verheißungsvoll.
9:15 Uhr. Der Benz hat es geschafft. Acht Schwimmer durchstoßen nach der Tauchphase die Wasseroberfläche; das Rennen über 200 Meter Rücken ist eröffnet. Ein Blick auf das Meldeergebnis zeigt, dass es nur einen ernstzunehmenden Konkurrenten gibt; Detlev von Ahsen aus Bremen, der gleich neben mir schwimmt. Der stärkste Schwimmer in der AK 60, Peter Kleiner aus Bad Homburg, ist leider nicht am Start.
Das Rennen ist schnell erzählt, weil nicht viel passiert. Vor der 50-Meter-Wende schneller Blick nach rechts, eine Armlänge Vorsprung vor Detlev. Und von Bahn zu Bahn wächst der Abstand, obwohl ich die ganze Zeit nicht mehr investieren muss als nötig. Meine innere Stimme ruft nicht einmal „Quäl Dich, Du Sau!“ Das ärgert mich später, weil man aus Rennen in der Komfortzone erstens nichts lernt und sie zweitens mit bestenfalls mäßigen Zeiten enden. So auch diesmal. Als ich anschlage, liegen knapp drei Körperlängen zwischen Detlev und mir. Die Zeit – 2:46,87 – nun ja, ich bin durchaus schon langsamer geschwommen, aber eben auch deutlich schneller. Der Erkenntnisgewinn („Wie ist die Form?“) ist überschaubar. Ich freue mich trotzdem. Deutscher Meister in der AK 60 ist kein schlechter Einstand nach so langer Pause. Ein paar Minuten nachdem ich aus dem Wasser geklettert bin, hänge ich mit den Gedanken schon beim nächsten Rennen: 200 Meter Brust.
Die warten am Nachmittag tags darauf. Diesmal bin ich keine Spur nervös. Ich hab‘ richtig Lust auf dieses Rennen, will es mir selbst beweisen. Die Trainingszeiten in Brust waren über Wochen deutlich besser als jene in Rücken, das macht Hoffnung. Vor vier Jahren bin ich an gleicher Stelle über die gleiche Strecke das vielleicht beste Rennen meines Lebens geschwommen und am Ende Vizemeister geworden. Ein gutes Omen?
Auf der Startbrücke eine kleine Enttäuschung: Ronald Horrmann aus Nordenham, der bei jenem Rennen vor vier Jahren die Nase vorn hatte, ist nicht am Start. Schade. Wir hatten uns eigentlich fest zum 200-Brust-Battle verabredet. Aber an guter Konkurrenz mangelt es trotzdem nicht. Klaus Spranz aus Bad Cannstadt, selbstbewusst und ein bisschen grummelig wie immer, wird sicher unter drei Minuten schwimmen – was mir bislang nur bei diesem einen Rennen 2019 gelungen ist. Kann ich so schnell heute schwimmen?
Die ersten 100 Meter schwimme ich genau so, wie ich es immer wieder in Gedanken durchgespielt habe: Mit Druck, aber kontrolliert – und gaaanz lang bleiben. Bei der 50-Meter-Wende haben Klaus und ich schon eine Länge Vorsprung auf die anderen; ich schwimme auf Bahn 6 und sehe ihn auf Bahn 3 so gerade eben aus den Augenwinkeln. Bei 100 Meter liegt er eine halbe Sekunde vorn. Nur gut, dass ich in dem Moment nicht zur Anzeigetafel schaue. Die Zwischenzeit – 1:26,1 – hätte mir Angst gemacht. Sie liegt auf Bestzeitkurs, also ganz sicher über meinen derzeitigen Möglichkeiten.
Gegen Ende der dritten Bahn spüre ich, dass ich dem hohen Anfangstempo Tribut zollen muss. Aber noch ist alles im Lot. Die Koordination stimmt, ich bekomme genug Luft, ich bin noch Herr der Lage.
Das ändert sich abrupt mit dem Auftauchen nach der letzten Wende. Arme und Beine „machen zu“ – und zwar gleichzeitig und unwiderruflich. Totaler koordinativer Zusammenbruch. Von jetzt an ist es nur noch ein hektisches Rühren wie in der Teigschüssel. Wer das vom Beckenrand aus gesehen hat, muss Mitleid bekommen haben, oder er hat kein Herz. Ach wenn doch jetzt ein Wadenkrampf käme… Aber es kommt keiner. Also mühe ich mich weiter der Wand entgegen, die einfach nicht näherkommen will. Ich bin selten so eingebrochen wie auf diesen letzten 50 Metern. Als Zweiter schleppe ich mich ins Ziel, immerhin, in 3:01,32, gut zwei Sekunden hinter Klaus, der das Rennen souverän nach Hause geschwommen ist. „Super gemacht!“ rufe ich ihm noch im Wasser zu. Ich neide ihm den Erfolg tatsächlich kein bisschen.
Es war gut, wieder unter den Besten zu sein. Ein Meister- und ein Vizemeistertitel sind ein schöner Erfolg, keine Frage. Und ein Ansporn, jetzt „dranzubleiben“. Die nächsten Wettkämpfe stehen an. Aber es ist nicht nur das Sportliche. Vor einiger Zeit habe ich begonnen, meine Konkurrenten einfach anzusprechen. Es hat mich genervt, dass jeder so ernst und zurückgezogen in seiner Ecke sitzt und man sich nur auf der Startbrücke ein paar Satzfetzen zuwirft. Wir haben doch alle Freude am gleichen Sport, da kann man sich doch austauschen. Ich habe in Halle richtig gute Gespräche geführt.
Auf der Rückfahrt nach Berlin zermartere ich mir den Kopf, wie bei 200 Meter Brust dieses Debakel auf der letzten Bahn passieren konnte. Die 100-Meter-Zeit war natürlich zu flott, aber auch nicht so schnell, dass sie einen derartigen breakdown erklären kann.
Am nächsten Morgen spüre ich nach dem Aufwachen so ein leichtes Kratzen im Hals, das erstmal verschwindet. Am Morgen drauf kann ich nicht mehr schlucken und huste gelbes Zeug ins Waschbecken. „Sie haben eine Angina“, sagt der Doc und verordnet Antibiotika und Trainingspause.